11.03.2018

Schwächen bei der Ausführung der Subtraktion

Ein Thema, das mich im Moment stark beschäftigt, sind die Unsicherheiten der Schüler bei der Subtraktion. Seit November sitze ich daran, lese und forsche. Ihr habt davon nicht sonderlich viel mitbekommen. Es ist ein weit gespanntes, der scheinbaren Einfachheit des Ergebnisses nicht offensichtliches Thema. Ich fühle mich an den Satz von Lacan erinnert, dass das Ärgerliche an einem Symptom sei, dass ein so dummes Ding einen solch intellektuellen Aufwand erfordert.

Zur Norm: Operationalisierung

Folgt man einer Einsicht der Kognitionspsychologie, dann ist ein intellektueller Sachverhalt dann besonders gut verstanden, wenn die darin enthaltene Transformation begriffen und in beide Richtungen ausgeführt werden kann. Für die Mathematik, bzw. das Rechnenlernen heißt das zum Beispiel, dass eine Menge einer Zahl und eine Zahl einer Menge zugeordnet werden kann, bzw. das zu einer Zahl eine Menge „konstruiert“ (also gelegt oder gemalt) werden kann, bzw. eine Menge benannt wird.
Beim Rechnen im Hunderterraum bedeutet das, dass sowohl die Addition wie die Subtraktion flüssig ausgeführt werden können und ineinander überführt werden. Der Zusammenhang muss begriffen sein. Deshalb sind sogenannte Umkehr- und Tauschaufgaben so wichtig.

Umkehr- und Tauschaufgaben

Zur Erklärung: nehmen wir die einfache Aufgabe 5 + 7 = 12. Die Tauschaufgabe dazu ist 7 + 5 = 12. Sie beruht auf dem Kommutativgesetz. Die erste Umkehraufgabe lautet 12 - 5 = 7, die zweite 12 - 7 = 5.
Für die Schüler ist das nicht immer so einfach zu begreifen. Es gibt zum Beispiel Kinder, die die Handlung des Dazulegens und Wegnehmens wie selbstverständlich ausführen, aber die Verbindung zu den symbolischen Anordnungen (also den einzelnen Rechnungen in symbolischer Form) nicht mit derselben Austauschbarkeit in Bezug bringen. Die handlungspraktische Analogie wird im Einzelfall, aber nicht verallgemeinert übertragen. Und in dem Moment, in dem ich mit dem Schüler die Rechnung anhand von Klötzchen nachvollziehe, ist die Verbindung da, aber sobald die Klötzchen weggelassen werden, verschwindet auch die Verbindung.
Ein Stolperstein bei den Tauschaufgaben ist auch, dass die Austauschbarkeit bei der Addition über das Rechenzeichen hinweg geschieht, bei der Subtraktion über das Gleichheitszeichen. Ich habe aber immer noch Kinder in der Klasse, die Umkehraufgabe (trotz farbliche Markierung, trotz ritueller Wiederholung, dass die größte Zahl bei der Subtraktion zuerst stehen muss) mit 5 - 7 = 12 zu lösen versuchen.
Soweit also das Vorgeplänkel.

Regeln

Eine Zeit lang habe ich dieses Problem durch Ritualisierung der Aufgaben zu lösen versucht. Dies hat aber nur halbherzig gefruchtet. Bei der Subtraktion im Tausenderbereich stehe ich wieder vor dem selben Problem. Vermehrt durch Unsicherheiten beim Stellenwert (so hat mir ein Schüler eine Hunderterzahl trotz wiederholter Übung rückwärts zergliedert, also die Einer zum Beginn und den Hunderter zum Ende gesetzt).
Parallel dazu beobachte ich die Leistungen der Kinder beim freien Schreiben. Hier finden sich - zum Teil - große Unsicherheiten bei der Gliederung in Sätze. Und auch wenn es hier keinen eindeutigen Zusammenhang gibt, so doch ein deutliches Zusammentreffen mit den Problemen bei der Subtraktion.
Scheinbar ist die Gliederung von Sätzen und die Einhaltung von (relativ abstrakten) Regeln eng miteinander verbunden.

Kategorisieren

Ein anderer Bereich, den ich verstärkt beobachte, ist die Bildung von Kategorien. Hier gibt es zwei Arten von Kategorien, einmal die handlungspraktischen, die sich über situative Zusammenhänge bildet. Dazu gehören dann solche Wortfelder wie „Bauernhof“, „Feuerwehr“ oder „Schmetterlingsfarm“. Die aspektiven Kategorien gliedern sich nach Merkmalen von mehr oder weniger großer Abstraktheit. Dies sind dann zum Beispiel alle Tiere, deren junges Stadium eine Raupenform beinhalten, alle Pflanzen mit Zwiebeln, oder alle Stoffe, bei denen wir ein flüssiges und ein festes Stadium kennen. Die Abstraktion kann hintergründige und hochwissenschaftliche Formen annehmen, wie etwa alle Stoffe mit einer Ketongruppe oder alle Texte mit einer dialogischen Form des Perspektivwechsels (wie zum Beispiel Hemingways Der alte Mann und das Meer).
Das Verstehen des Zahlenraums ist nun nur teilweise handlungspraktisch möglich, und insofern man über den Tausenderraum deutlich hinausgeht, oft auch nur noch unter erheblichem Materialaufwand möglich. Man muss sich als Lehrer also darauf verlassen, dass die Kategorisierung nach und nach von der handlungspraktischen Situation in die abstrahierende Vorstellung hinübergleitet.

Der verbundene Text

Auch hier gibt es beim freien Schreiben eine Analogie. Manche Kinder schreiben Texte, die einfach Satz für Satz aneinanderreihen, ohne eine richtige Verbindung herzustellen. Man könnte die einzelnen Sätze gut auch einzeln stehen lassen. Der Text ist dann nur materiell verbunden, weil die Sätze eher zufällig nebeneinanderstehen. Da ich in den Wochenfragen immer ein Thema vorgeben, gibt es natürlich auch das Thema als verbindendes Moment. Doch auch hier wären die Sätze in ihrer Reihenfolge eher beliebig.
Bei „kompetenteren“ Schreibern dagegen merkt man, dass Texte eine Art Hintergrundordnung gewinnen, die die Sätze über ein oberflächliches Thema und ihr räumliches Nebeneinander verbinden. Sie bekommen dadurch mehr Tiefe, eine feinere Ordnung und eine strengere Logik.
Meine Fantasie geht nun dahin, dass diese hintergründige Ordnung auch dazu beiträgt, einzelne Bereiche besser gegeneinander abzugrenzen und ihnen somit ihre eigenen Regeln zu belassen. In der Beherrschung des Zahlenraums merkt man dies zum Beispiel daran, dass das Vergleichen von Zahlen und das Operieren mit Zahlen erst über die Trennung verbindend ist. Man vergleicht und ordnet Zahlen nämlich vom größten Stellenwert her, während Operationen vom kleinsten Stellenwert her ausgeführt werden. Wer diese beiden Bereiche nicht trennen kann (unter anderem auch, weil der Zahlenraum nicht genügend imaginiert werden kann), wirft die Reihenfolge auch mal gerne durcheinander. Dies ist mir passiert, obwohl ich deutlich darauf hingewiesen habe, dass wir hier unterschiedlich vorgehen, und auch obwohl ich unseren Merksatz dazu von meinen „Spezialisten“ habe wiederholen lassen.

Semantische Ordner

Hinter all diesen Phänomenen tauchen die semantischen Ordner auf: damit bezeichne ich unbewusste, latente, vorbewusste, zum Teil aber auch gut beherrschte und vollständig bewusste Kategorien, die das ganze Weltbild strukturieren und stabilisieren. Diese zielen also nicht mehr auf einzelne Bereiche, sondern auf die Ordnung des Ganzen, auch wenn sie als einzelne Bereiche erscheinen.
Dabei ist ein wichtiger Aspekt dieser Ordner ihre Abgrenzung, bzw. ihre Fähigkeit, ein Gebiet gegen andere Gebiete zu begrenzen. An dessen Wurzel liegt die Negation, und wenn man dies auf die Entwicklungspsychologie, bzw. auf die Kinderentwicklung überträgt, die Trotzphase.

Die Trotzphase

So unangenehm die Trotzphase für manche Eltern ist, so peinlich sie werden kann, wenn der Trotz des Kindes in der Öffentlichkeit ausgetragen wird, so wichtig ist diese für die kognitive Entwicklung des Kindes. Es scheint nämlich so, als würde das Kind über das Ausagieren nach und nach das „Nein“ als semantische Komponente im eigenen Denken verankern. Auch wenn dies dann zunächst noch sehr roh ausgeführt wird, folgt danach in der Entwicklung eine stärkere Beschränkung auf das Rollenspiel und dann auf regelgeleitete Spiele, während sich gleichzeitig der Satz mit der Handlung als ordnendem Kern gegenüber der reihenden Assoziation durchsetzt.
Die Handlung ist dabei zwar noch sehr materiell, sehr konkret, aber sie ist zugleich in der Lage, den Satzteilen unterschiedliche Rollen zuzuweisen. Diese Rollen sind wiederum relativ abstrakt. Sie können gegeneinander ausgetauscht werden: zunächst auch wiederum sehr materiell, ob man nämlich das Bild der Mutter oder der Erzieherin schenkt, ob man die Blume lieber rot oder blau malt, usw. Doch nach und nach schleichen sich dann immer weitere, feinere und von der Situation weiter entfernte Kategorien ein.
So scheint die Trotzphase zwar nicht die einzige Bedingung für erfolgreiche Kategorisierungen zu sein, aber doch eine recht notwendige und grundlegende.

Muster

Bedenkt man nun, dass sich Muster auf verschiedenen Ebenen bilden können, und analysiert man, wie viele Muster ein gelungener Text enthält, so beruht das erfolgreiche Schreiben eines zusammenhängenden Textes auf der Verknüpfung zahlreicher oberflächlicher und hintergründiger Muster (z.B. oberflächlich die grundlegenden Satzmuster, hintergründig die narrative(n) Logik(en)), ist also intellektuell gesehen eine enorme Leistung.
Wenn bereits oberflächliche Kategorisierungen unsicher sind, können weder relativ konkrete Texte (Welches Hobby hast du? Erzähle oder begründe.) noch stark abstrakte Texte (so etwa der Zahlenraum) durchgängig gegliedert werden.

Kognitive Teilleistungen und Imagination

Damit ist in etwa mein derzeitiger Forschungs- und Denkraum umrissen.
Ich verbinde also die Themen nicht auf der Ebene ihrer Disziplinen, sondern der dahinterliegenden kognitiven Teilleistungen. Eine Lernschwäche ist demnach auch nicht an ein oberflächliches Üben gebunden, sondern muss stützende, benachbarte Übungsfelder erschließen. So sehe ich das Schreiben freier Texte nicht als unabhängig von den mathematischen Kompetenzen, sondern zum Teil direkt auf diese bezogen.
Hier müsste ich nun genauer auf die Vorstellungsbildung eingehen, auf die Imagination. Ein weiterer wichtiger Teilaspekt von Rechenschwächen, bzw. Unsicherheiten beim Erwerb Zahlenraums ist die Verbindung der Imagination mit der Versprachlichung, bzw. allgemeiner mit der Symbolisierung. Da dieses Gebiet aber weitläufig und deshalb auch schwer zu durchdringen ist, habe ich es hier weggelassen. Es müsste eigentlich das zentrale Thema sein. Aber trotz jahrelanger Beschäftigung scheue ich mich davor, hier allzu eindeutige Aussagen zu machen. Die Entwicklung von Vorstellungsbildern, schließlich der konstruktive und kreative Entwurf eigener Vorstellungen (die „Fantasie“), ist selbst ein Feld, das vom Forscher sehr viel Flexibilität und Einbildungskraft abverlangt.

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