16.08.2015

Scheinbarkeiten: Einbildungskraft und Handlungsfähigkeit

Zugegeben: die folgende Lektüre zweier Fragmente von Nietzsche ist eine recht penible Arbeit. Allerdings führt sie nichts anderes vor als die Verquickung von Handlungsfähigkeit und Bewusstseinsfähigkeit, und insofern ist sie gerade auch für die Didaktik des Literaturunterrichts eine wichtige Arbeit. Sie ist gleichsam am Rande meiner Beschäftigung mit der Einbildungskraft entstanden.

Scheinbarkeit

Gerade gehe ich der Scheinbarkeit nach, jener Scheinbarkeit, die Agamben in seinem Text Das unvordenkliche Bild aus einem Text von Nietzsche aus dem Nachlass (KSA XIII, 371) zitiert. Schon vorher wird dieser Begriff der Scheinbarkeit von Nietzsche verwendet, zum Beispiel im zweiten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse, § 34.
Gliedert man das Fragment auf, dann ergibt sich in etwa folgender Fahrplan:
  • Irrtümlichkeit als das Sicherste
  • Misstrauen gegen die Dinge
  • Misstrauen gegen das Bewusstsein
  • das Bewusstsein schließlich um ehrliche Antworten bitten
  • die unmittelbaren Gewissheiten
  • Pflicht zum Misstrauen
  • perspektivische Schätzung
  • Stufen der Scheinbarkeit
  • Fiktion ohne Urheber
Dies alles bezieht sich auf die Wahrheit und die Wahrhaftigkeit der Welt im Auge des Betrachters. Nun ist dieses Fragment in Jenseits von Gut und Böse noch ein frühes Stadium der Ausarbeitung. In dem Fragment aus dem Nachlass führt Nietzsche die Argumentation weiter; er kürzt sie ab, entfernt den Begriff der Perspektive und ersetzt diesen durch ein Kraftzentrum, welches die Welt als „Gesamtspiel dieser Aktionen“ mit sich führt.
Doch eins nach dem anderen.

Irrtümlichkeit als das Sicherste

Mit einigem Spott gibt Nietzsche zu bedenken, dass man, gleich auf welche Philosophie man sich einlässt, doch mit einem rechnen kann: dass es eine Irrtümlichkeit der Welt gebe. Die Welt ist Schein, vielmehr noch Einbildung und Phantasma. Dies war die Sache, die Kant nicht sehen wollte und nicht sehen konnte: schließlich musste er, der die Welt durch die Kritik der reinen Vernunft nun endlich vernünftig machen wollte, der ihr durch das kritische Denken ein menschliches Maß aufdrücken wollte, doch eben jenes Maß an Verankerung in einer Welt jenseits des Verstandes geben, die er von Anfang an durch die Darstellung der Einbildungskraft durchdrungen und korrumpiert hat.

Misstrauen gegen die Dinge

Ohne Frage führt uns Nietzsche nun weiter dahin, dass diese Gründe für die Irrtümlichkeit der Welt projeziert sind, dass diese Wahrheit allerdings nicht mit der Projektion selbst zusammenfällt, dass also die Projektion selbst noch ein Irrtum ist, allerdings nicht im Was der Projektion, sondern eher im Wie der Projektion.
Wie dem auch sei: zunächst projezieren wir ein „betrügerisches Prinzip“ ins „Wesen der Dinge“. Und dass wir dafür „Gründe über Gründe“ finden, so dass unsere Gedanken fortlaufend in Bewegung gesetzt sind.

Misstrauen gegen das Bewusstsein

Schließlich aber kehrt sich das Bewusstsein gegen sich selbst. Nun wird das Denken „für die Falschheit der Welt verantwortlich“ gemacht. Die Irrtümlichkeit der Welt liegt in uns selbst; dies nennt Nietzsche einen „ehrenhaften Ausweg“ und den Denker selbst, der auf eine solche Einsicht kommt, einen advocatus dei, einen Fürsprecher Gottes.
Hier sei angemerkt, dass diese doppelte Negation jener ideologischen Dialektik nah kommt, mit der Hegel operiert. Nicht ohne Grund scheint Nietzsche das Wort „Mutmaßung“ zu benutzen, Hypothese, so dass die Irrtümlichkeit der Welt zunächst zum betrügerischen Prinzip der Dinge, dann aber zum falschen Bewusstsein dialektisiert wird. Doch ist all dies nicht Synthese zu einer höheren Wahrheit, sondern Synthese zu einer noch befremdlicheren Hypothese.

Bitte um ehrliche Antwort

Hier nun wird Nietzsche in seiner Argumentation langsamer und breitet sich aus, um dann in einer scharfen Wende genau dieses Misstrauen gegen das Bewusstsein in seinen Folgen anzugreifen.
Denn was ist die Folge jener Behauptung, dass das Denken bisher mit uns den „allergrößten Schabernack gespielt“ habe? Zum Beispiel, dass sich das Denken nun vor sich selbst hinstellt und es allen Ernstes bittet, ihm „ehrliche Antworten“ zu geben, „zum Beispiel ob es „real“ sei, und warum es eigentlich die äußere Welt sich so entschlossen vom Halse halten, und was dergleichen Fragen mehr sind“.
Man muss diesen Zirkelschluss hören und lesen, den Nietzsche hier bis in die Absurdität treibt, dass sich das voraussetzt, was infrage steht, nämlich das Denken der Wahrheit.

Die unmittelbaren Gewissheiten

Zu einer solchen Naivität zählen für Nietzsche auch die „unmittelbaren Gewissheiten“.
Freilich, um hier gegen Nietzsche zu sprechen, ist der Begriff der „unmittelbaren Gewissheit“ nicht ganz so einfach zu nehmen. Das, was ich sinnlich feststelle, was mir die Welt zu sein scheint, ist noch lange nicht die Wahrheit. Gerade dass die „unmittelbaren Gewissheiten“ die lebhaftesten Täuschungen enthalten, hat doch die Philosophen umgetrieben und dies gerade nicht immer in die Richtung, dass es „gute“ und „schlechte“ unmittelbare Gewissheiten gäbe, die man mit ein wenig philosophischem Zauberspuk unterscheiden könne. Wiewohl es natürlich solche Menschen gibt, sogar akademische Menschen, die dies zu vollbringen scheinen.

Pflicht zum Misstrauen

Der Philosoph, so Nietzsche weiter „jenseits der bürgerlichen Welt mit ihren Ja's und Nein's“ habe die „Pflicht zum Misstrauen“. Im bürgerlichen Leben gelte das Misstrauen als Zeichen des schlechten Charakters. Doch gerade dies zeichne den Philosophen aus, dass er sich eben nicht naiv unter einen moralischen Alltagsglauben stelle, und eben dies sei der Glaube an die „unmittelbaren Gewissheiten“, so wissenschaftlich er sich auch gebärde; sondern dass der Philosoph aushalte, hier zu widersprechen, hier nicht dem bürgerlichen Leben zuzugehören, hier in die Einsamkeit der Wüste gehen zu müssen.

Perspektivische Schätzung

Wie im Vorübergehen, was es freilich nicht ist, wenn man Nietzsche im größeren Zusammenhang liest, schreibt er: »es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeit«. Und argumentiert dann weiter, dass von der Wahrheit nichts mehr übrig bliebe, wenn man eine solche perspektivische Schätzung aus der Welt schaffen könnte. Die Wahrheit, und dies ist einer der roten Fäden von Jenseits von Gut und Böse, ist die Wahrheit einer Perspektive, also gerade nicht die Wahrheit.
Erinnern wir uns daran, wie dieses Werk beginnt:
»Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen?«
Und überhören wir jetzt den Ton, der das Blut jeder Feministin in Wallung bringen könnte und lesen wir die Frau nicht als Figur, sondern als Charakteristikum der Wahrheit, so ist diese Wahrheit nicht dogmatisch zu nehmen, also nicht als außerzeitlich, a-historisch, metaphysisch.

In Bewegung

Hier klärt Nietzsche den Gedanken noch nicht vollständig. Er ist lesbar, aber noch nicht zum Aphorismus geworden. Wenn nun die Wahrheit die Wahrheit einer Perspektive ist, und diese Perspektive weder dogmatisch noch irrtümlich ist, muss es eine andere Wendung als die der „unmittelbaren Gewissheit“ geben. Der Spott über die Dogmatiker gibt uns einen ersten Fingerzeig: die Wahrheit (und vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib sei) ist in Bewegung, ist verzeitlicht, historisch, weltlich, mit einem Wort: immanent.
Deutlicher wird Nietzsche in § 118 der Morgenröthe:
»Was begreifen wir denn von unserem Nächsten, als seine Grenzen, ich meine, Das, womit er sich auf und an uns gleichsam einzeichnet und eindrückt? Wir begreifen Nichts von ihm, als die Veränderungen an uns, deren Ursache er ist, …«
Es gibt also keine Wahrheit, aber es gibt eine Wirkung der Bewegung. (Und man darf sich hier nur wundern, mit welcher Naivität dann Nietzsche selbst aus solchen Bewegungen, gleichwohl er sie als Phantome bezeichnet, auch unmittelbare Gewissheiten macht.)

Stufen der Scheinbarkeit

Schließlich mahnt Nietzsche uns zur Bescheidenheit. Sollte es uns nicht genügen, verschiedene „Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesamttöne des Scheins“, statt uns dem Zwang von „wahr“ und „falsch“ zu unterwerfen?
Trotzdem bleibt Nietzsche auch hier noch einer Dichotomie verbunden und einer Skalierung. Diese verläuft nicht mehr nach idealistischen Vorgaben in wahr/falsch, sondern nach metaphorischen von hell/dunkel, doch sollte uns diese Lichtmetaphorik, jene sprachliche Errungenschaft der Neuzeit, auf Distanz gehen lassen.
Immer, wenn das Licht der Lichtmetaphern unser Wissen erhellt, schwimmen mindestens am Rande die Metaphern der Ganzheit, der Verdüsterung, schließlich der Zerrissenheit und Unbrauchbarkeit, der Asozialität mit.
Und ebenso misstrauisch sollte uns das Wort „Schatten“ machen. Denn der Schatten ist immer noch jenes Abbild von der Wahrheit, die der Philosoph sehen kann, da er sich von seinen Fesseln befreit hat und aus der Höhle hinauf ins Licht steigt. So beschwört Nietzsche hier noch am Rande das berühmteste platonische Gleichnis, mit dem das siebte Buch der Politeia beginnt.
Er entkommt noch nicht der Lichtmetaphorik, auch wenn er der Wahrheit entsagt.
(Zu Nietzsche, Merkel und der Metaphorik von Licht und Zerrissenheit siehe: Was mache ich eigentlich ...

Fiktion ohne Urheber

Von der Scheinbarkeit zur Fiktion ist es nur noch ein kleiner Schritt. »Warum«, so fragt Nietzsche, »dürfte die Welt, die uns etwas angeht –, nicht eine Fiktion sein?« Und auch dies ist eine jener Unzuverlässigkeiten, die sich in Nietzsche Werk einschleichen. Noch einmal: wettert er zuvor gegen die unmittelbaren Gegebenheiten, so drängt er hier den Leser geradezu, diese anzunehmen, sich auf den Schein einzulassen und ihn nicht zu hinterfragen.
Ja selbst die Frage nach dem Urheber dieser Fiktion sei müßig, da doch schon diese Frage selbst zur Fiktion dazu gehöre. Wenn also auch dies Fiktion sei, warum dann weiter fragen?

Kraftzentren

Wir können nun ohne Umschweife sagen, was uns an dem Fragment von Nietzsche stört.
Dies ist (1) sein Verhältnis zur Unmittelbarkeit und Intuition, (2) die Einschätzung von Perspektive und Scheinbarkeit und (3) die Einteilung der Scheinbarkeit selbst.

Im Spätwerk von Nietzsche wird sich nun einiges ändern.
Insbesondere wird er dem Schatten und damit der Metaphorik des Lichts eine ganz andere Wendung geben, als er dies in § 34 in Jenseits von Gut und Böse getan hat. Dadurch kann er zugleich den Schatten und den Schein eliminieren; freilich gelingt ihm dies nur, weil er zuvor die Schatten in unterschiedliche Grade eingeteilt hat, in ein Heller und Dunkler, so dass selbst noch das Licht des Höhlenausgangs ein Schatten ist, dem der Philosoph nachjagen musste.

Doch gehen wir der Reihe nach vor, klären wir nach und nach, was Nietzsche im Frühjahr 1888 aufgezeichnet hat und was als Fragment 14[184] auf Seite 370 f. der KSA zu finden ist.
Dieses Fragment ordnet sich in etwa wie folgt:
  • Gefüge der Scheinbarkeit
  • Wertung und Schein
  • Nützlichkeit
  • Erhaltung und Steigerung der Macht
  • das Perspektivische
  • Subjektschwund
  • Kraftzentrum
  • Divergenz und Diversitäten
  • Reduktion und Aufmerksamkeit
  • die Vertreibung der Schatten
  • die Vertreibung des Seins

Gefüge der Scheinbarkeit

Mehr für sich, aber doch als Überschrift, notiert Nietzsche zu Beginn:
»die „Scheinbarkeit“ = spezifische Aktions-Reaktions-tätigkeit«
Lauschen wir diesen Worten nach, so hat sich hier etwas maßgeblich verändert. Hatte Nietzsche in JGB noch eine Skalierung der Scheinbarkeit vorgenommen, werden jetzt die Scheinbarkeiten in sich erschlossen. Hier, aber deutlicher wird das noch mit der Metapher des Kraftzentrums, besteht der Schein aus einem Gefüge von Aktionen und Reaktionen, aus einem Widerspiel der Kräfte.
Nun widerspricht das noch nicht einer Skalierung, insofern die Skalierung verschiedene Scheinbarkeiten betrifft, während das Gefüge die Scheinbarkeit in sich selbst strukturiert. Wir werden aber gleich sehen, dass Nietzsche darüber die Frage nach der Skalierung zurückweisen und ausklammern kann.

Wertung und Schein

Gleich der erste Absatz führt eine Reihe von Gedanken mit sich, die, sieht man sie in ihrer Rohheit, zu all den Schrecken führen, die man gelegentlich mit Nietzsches Philosophie verbindet.
Im Zentrum dieses Schreckens steht der Begriff der Nützlichkeit oder Zweckdienlichkeit. Dabei setzt Nietzsche hier wie selbstverständlich einige seiner Hypothesen für wahr.
»die scheinbare Welt d.h. eine Welt, nach Werten angesehen, geordnet, ausgewählt nach Werten …«
Nietzsche hat die innige Verbindung zwischen Wertung und Schein nicht nur vollzogen, sondern er behauptet hier, dass die Welt nur erscheint, insofern sie gewertet wird, und dass die Wertung Voraussetzung für die Welt als Erscheinende ist.
Dies war eine Einsicht, die Kant bei seinem Entwurf der Einbildungskraft nicht mehr vollziehen konnte. Obwohl die Einbildungskraft der Welt ihre Form gibt, musste diese doch dem Verstand dienen. Der Verstand wiederum konnte über die Kritik seine eigenen Grenzen ermessen und so über diese hinausgehen. Der Fehler Kants, und dies wirft Nietzsche ihm explizit in der Götzen-Dämmerung vor, war, dass er die Welt immer noch in eine wahre und eine scheinbare einteilte.

Nützlichkeit

Nietzsche fährt also fort:
»ausgewählt nach Werten d.h. in diesem Falle nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt«
Damit stellt Nietzsche zweierlei dar: zum einen werden die Werte danach ausgewählt, was als nützlich erscheint (!), und zweitens gibt dies den Gesichtspunkt, also die Perspektive. Machen wir uns bewusst, was das bedeutet. Die Wertung erzeugt den Schein, die Wertung aber bedeutet Nützlichkeit, so dass die Nützlichkeit den Schein erzeugt, also die Welt, soll heißen die Perspektive, die wir als Welt verstehen. Die Welt, so gesehen, wäre eine Welt, die sich in das Nützliche und das Unnütze einteilt.
Was aber ist dieser Nutzen wert? Was ist seine Nützlichkeit?

Erhaltung und Steigerung der Macht

Hier zeigt Nietzsche auf den ersten Blick jene krude Ideologie, die ihn anschlussfähig für sozialdarwinistische Ideologien machte, insbesondere auch dem Nationalsozialismus. Der Absatz schließt folgendermaßen:
»nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in Hinsicht auf die Erhaltung und Macht-Steigerung einer bestimmten Gattung von Animal.«
An dieser Stelle muss ich um Aufschub bitten. Macht ist ein durchaus schwieriger Begriff, und gerade bei Nietzsche sollte man vorsichtig sein, wenn es darum geht, Begriffe aus dem Hörensagen aufzufüllen. So gerne Nietzsche falsch zitiert wird, so gerne wird er falsch verstanden, wenn es um seine Begriffe und die Art seines Begriffsgebrauchs geht. Zu einer solchen Klärung fühle ich mich im Moment aber noch nicht in der Lage.
Halten wir hier vielleicht mit einiger Vorsicht fest, dass es um eine Art Bedürfnisbefriedigung geht, und diese Bedürfnisbefriedigung, je nach dem Stand der Dinge, zu unterschiedlichen Wertungen kommt und die Welt unterschiedlich konstruiert.

Das Perspektivische

Ordnet sich die Welt nach ihrer Nützlichkeit, so ist und bleibt sie perspektivisch und nichts als perspektivisch. Die Perspektive ist mit dem Erscheinen der Welt verklammert. Warum aber verändert Nietzsche seine Wortwahl? Warum spricht er hier nicht mehr von der Perspektive, sondern vom Perspektivischen?
Ohne dies zu sagen, vollführt das Fragment eine zweite Wendung, die ebenfalls seit langer Zeit angelegt ist, und die bereits in § 34 aufscheint. Dies ist die Wendung gegen die Grammatik. In dem ganzen Fragment taucht das Individuum, die Person, der Mensch nicht auf. Ganz entschieden wird die Form Mensch aus dem Zentrum gerückt und erscheint noch am deutlichsten in der Wendung „einer bestimmten Gattung von Animal“.
Zunächst bekommt die Perspektive eine neue Qualität: indem sie zum Adjektiv wird, ist sie Merkmal, aber nicht mehr Bestandteil. Der Mensch hat keine Perspektive, aber er lebt im Perspektivischen.

Subjektschwund

Zudem finden wir bei Nietzsche einen Gedanken vorgezeichnet, um den sich Wittgenstein dann ganz explizit kümmern wird: dies ist das Gefangensein des Denkens durch die herrschende Sprache. So fragt Nietzsche im § 34:
»Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben?«
Und in jenem Abschnitt über die „Vernunft“ in der Philosophie aus der Götzen-Dämmerung, in der er auch Kant kritisiert, schreibt er:
»Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben …«
Im selben Sinne schreibt Wittgenstein im § 115 der PU:
»Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.«
Es scheint hier eine gewisse Verträglichkeit zwischen Sprachkritik, Sozialdarwinismus und Subjektschwund zu geben. Dies sei aber nur im Vorübergehen notiert. Trotzdem muss ich auf die Wichtigkeit dieser Konstellation hinweisen, da sie in der Philosophie des 20. Jahrhunderts jene Kampfzone ausweitet, mit der sich die Philosophen in das politische Denken und die politische Praxis einmischen. Nicht, dass dies nicht interessant wäre; die Aufgabe erscheint mir derzeit als noch zu groß. Ich werde das verschieben müssen (wie ich bereits das Thema der Macht verschieben musste).

Kraftzentrum

Hier nun führt Nietzsche die Metapher des Kraftzentrums ein, jenem Begriff, der das ganze Fragment strukturiert und ordnet, sogar den Begriff der Scheinbarkeit, der mich hier eigentlich interessiert (und der, daran möchte ich erinnern, mich deshalb interessiert, weil er scheinbar (!) mit dem Begriff der Einbildungskraft in Verbindung steht).
Jenes Kraftzentrum nun ist das Perspektivische selbst; es gibt das Perspektivische, wobei jenes ›es gibt‹ nicht als Zugeständnis einer Existenz gelesen werden darf, sondern im Sinne einer Gabe, eines Gebens, einer Aktivität, die dem Anderen zukommt. Dieser Andere ist bei Nietzsche der Rest. Was hier gegeben wird, das ist die Wertung, die Nietzsche dann als Art der Aktion und des Widerstands präzisiert, also jene „spezifische Aktions-Reaktions-tätigkeit“, die Nietzsche der Scheinbarkeit gleichsetzt.
Dem Rest wird vom Kraftzentrum aus Aktion und Reaktion gegeben, also ihre Scheinbarkeit. Die Welt erscheint als Aktion und Reaktion, gemäß der Wertung, also der Nützlichkeit.

Divergenz und Diversität

Nietzsche beginnt aber mit einem Wörtchen, welches nun die Skalierung, die er drei Jahre zuvor noch impliziert hat, aus den Angeln hebt. Dieses Wörtchen ist „jedes“ und qualifiziert damit den zentralen Begriff dieses Fragments als „jedes Kraftzentrum“:
»jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive d.h. seine ganz bestimmte Wertung, seine Aktions-Art, seine Widerstandsart«
Damit vervielfältigen sich die Kraftzentren. Sie weichen in ihrer Wertung voneinander ab, sie erschaffen sich je eigene Scheinbarkeiten, je immer wieder neue Welten, nach unterschiedlichen Werten geordnet. Nietzsche vollzieht also den Wandel von einer Lichtmetaphorik, die noch einer arithmetischen Logik gehorcht (einer aufsteigenden Linie), zu einer Bewegungsmetaphorik, deren Logik geometrischer Natur ist (einer flächigen Nachbarschaft). Das Kraftzentrum bezeichnet eher ein Phänomen eines Milieus, als den Ursprung einer Vernunft. Weiter unten schreibt er:
»Die spezifische Art zu reagieren ist die einzige Art des Reagierens: wir wissen nicht wie viele und was für Arten es Alles gibt.«
Divergenz und Diversität sind auch Begriffe der Evolutionstheorie, und insofern knüpft der Begriff des Kraftzentrums, wenn auch auf sehr indirekte Weise, an einen Evolutionismus an. Wir stehen also, insofern wir Nietzsches Texte betrachten, vor einem gewissen Dilemma. Zu einer Ideologie der Vernunft können wir nicht zurück; aber zu einer Ideologie der Evolution durch Macht, wie sie dem Sozialdarwinismus eigen ist, können wir uns auch nicht bekennen.

Reduktion und Aufmerksamkeit

In diesem sehr komplexen Fragment bleiben zahlreiche Aspekte zu klären. Ich möchte auf drei weitere wichtige Punkte hinweisen.
Zunächst greift Nietzsche noch einmal das Wort „scheinbare Welt“ auf, diesmal allerdings in Anführungszeichen gesetzt, wie er gleich zu Beginn das Wort „Scheinbarkeit“ in Anführungszeichen gesetzt hat. Die Scheinbarkeit ist also uneigentlich, selbst nur scheinbar, eine scheinbare Scheinbarkeit und damit vielleicht doch etwas wie eine Wirklichkeit.

Bevor er dies jedoch ganz explizit dazu nutzt, um den Schein endgültig aus der Sorge um die Welt zu werfen, spezifiziert er die Wirkung des Zentrums: es reduziert. Was reduziert es? Die „scheinbare Welt“:
»Die „scheinbare Welt“ reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt, ausgehend von einem Zentrum«
In dieser Bewegung der Argumentation liegt ein Widerspruch, der sich nur dadurch auflösen lässt, indem man das Kraftzentrum als beweglich denkt, als wandelbar. Denn auf der einen Seite bringt das Kraftzentrum die scheinbare Welt zur Erscheinung, auf der anderen Seite reduziert sie diese scheinbare Welt auf das, was ihr nützlich ist.

Offensichtlich denkt Nietzsche an zwei verschiedene Arten von Scheinbarkeiten, eine, die sozusagen die Gesamtheit der scheinbaren Welten ausmacht, und eine andere, die eben diese scheinbare Welt ist, also gleichsam eine potenziell scheinbare Welt und eine aktuelle, bzw. aktualisierte.
Wir finden hier den Ansatz einer Theorie der Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit wäre dann explizit mit der Nützlichkeit verbunden. Das Kraftzentrum ist für das aufmerksam, was ihm nützlich erscheint, es erschafft sich anhand dieser Nützlichkeit zu einer Scheinbarkeit, die ihm diesen Nutzen erfüllt. Die Aufmerksamkeit wäre dann eine Art von „Selbstbefriedigung“.
Dies wird nun eine weitere offene Flanke sein, der ich nicht nachgehen werde.

Die Vertreibung der Schatten

Auf zweierlei Weise vertreibt Nietzsche nun den Schatten der Aufklärung und damit die Lichtmetaphorik. Zum einen setzt er die Scheinbarkeit in Anführungsstriche und streicht damit den Verdacht der Uneigentlichkeit; man muss dies insbesondere auch entlang der Formulierung aus § 34 von JGB lesen, der Philosoph habe „heute die Pflicht zu misstrauen, zum boshaftesten Schielen aus jedem Abgrunde des Verdachts heraus“, der er nun nicht mehr zu folgen scheint.
Dann wird Nietzsche allerdings wesentlich deutlicher:
»Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein zu reden …«
War zuvor die Scheinbarkeit selbst noch von Schatten erfüllt, hat nun der Begriff des Scheins keine Legitimation mehr, ja noch nicht mal einen Schatten der Legitimation. Die Welt, so wie sie ist, als Perspektivische, wird gesetzt und darin ist sie Wirklichkeit. Die Schatten des Zweifels, die mit der Renaissance und dem Licht des aufgeklärten Denkens erschienen sind, sind verschwunden, nicht, weil das aufgeklärte Denken nun endlich die Realität gefunden habe, sondern weil die Suche nach der Realität selbst noch scheinbar und eine Scheinbarkeit sei.

Die Vertreibung des Seins

Schließlich wendet sich Nietzsche noch einmal gegen die Ideologie des Idealismus, die trotz ihrer dialektischen Bewegung eine bewegungslose Philosophie ist:
»Aber es gibt kein „anderes“, kein „wahres“, kein wesentliches Sein – damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion ausgedrückt sein …«
Das Wesen, das philosophische Wesen hat sich als Dogmatismus erwiesen. Das Eigentliche, das Ding-an-sich sind Konstruktionen gemäß der Wertung eines Kraftzentrums. Sie beziehen sich nicht auf ein Sein. Es mag sein, dass damit das Sein noch nicht aus der Welt geschafft ist, doch darum geht es Nietzsche vielleicht gar nicht. Zunächst lässt sich von dieser Position aus die Wertfreiheit der Ontologie bezweifeln und damit ihre Deutungsmacht, die sich als Machtlosigkeit ausgibt.

Handlungsfähigkeit im Tunnel

Was bleibt noch zu sagen? Obwohl das Fragment politisch durchaus einige Brisanz in sich trägt, und vielleicht sehr viel gründlicher durchdacht werden sollte, ergeben sich doch einige frappierende Anschlüsse an die moderne Neurophysiologie.

So scheint ein wichtiges Prinzip neuronaler Aktivität die Handlungsfähigkeit zu sein. Das Gehirn aktiviert nicht nur Muster der Wahrnehmung, sondern zugleich motorische Muster. Bedenkt man, dass die motorischen Muster eng an das Bewusstseinssystem gekoppelt sind, so ist allerdings auch die Handlungsfähigkeit nur abgeleitet; das Gehirn drängt nach Bewusstheit.

Insofern sind die Metapher vom Kraftzentrum und die vom Aktions-Reaktions-Gefüge durchaus ernstzunehmen. Metzinger schreibt in seinem Buch Der Ego-Tunnel, wie das Gehirn sich die Welt zu einer kompakten Einheit synthetisiert und diesem zugleich eine Konstruktion gegenübersetzt, die es als Ich identifiziert, als das handelnde Subjekt in dieser kompakten Umwelt.

Nimmt man Nietzsche (und Metzinger) dahingehend ernst, dann sind zwei wichtige Prinzipien der Menschlichkeit die Handlungsfähigkeit und die Bewusstseinsfähigkeit, und insofern die Handlungsfähigkeit die Bewusstwerdung ermöglicht, kann man daraus auch ein Prinzip machen: Bewusstseinsfähigkeit durch Handlungsfähigkeit. (Man verzeihe mir, dass ich diesen Schlenker dann nicht vollständig auf Nietzsche zurückbinde: Eine solche Diskussion hätte noch einmal einige Stunden Arbeit gekostet und der Artikel ist jetzt sowieso schon zu lang.)

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